Ein Streitgespräch mit dem Komponisten Moritz Eggert
„Komponistinnen werden kaum gespielt und Komponisten sind alt oder tot“, lautete die Ausgangsthese eines Rundfunkgesprächs im Sommer 2019, das Daniel Finkgernagel mit dem Komponisten Moritz Eggert führte. Eggerts dort getroffene Aussagen reizten mich zum Widerspruch. Der per Mail geführte Dialog im Sommer 2020 dauerte mehrere Wochen. Beide kannten wir uns zuvor nicht persönlich. Streitpunkte aber gab es zahlreiche, etwa über die Frage: Was macht Kunst zur „guten“ Kunst? Welche Relevanz besitzt die sogenannte E-Musik überhaupt noch als Sinnstifter in heutigen Zeiten? Gibt es zwischen E- und U-Musik grundsätzliche ästhetische Differenzen, oder kann es, gleichgültig welchen Genres, nur gute oder schlechte Musik geben? Das argumentative Hin-und-Her, der schwierige Versuch gegenseitigen Verstehens und Überzeugens machen das Protokoll dieses Gedankenausaustausches zwischen Komponist und Musikwissenschaftler (der auch Musiker ist), zum Zeugnis eines kritischen Nachdenkens über Musik und Musikverstehen.
Moritz Eggert: https://de.wikipedia.org/wiki/Moritz_Eggert │ https://www.moritzeggert.de/
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Lieber Moritz Eggert,
ich möchte Ihnen für etwas danken, was Sie vermutlich gar nicht mehr im Gedächtnis haben. Ich bin zufällig auf ein Rundfunkgespräch gestoßen, geführt von Daniel Finkernagel mit dem Komponisten Moritz Eggert. Es liegt schon etwas länger zurück (WDR 3, Gespräch am Samstag, am 3. August 2019. Die Sendung ist nicht mehr in der Mediathek gelistet). Dort äußern Sie sich über die Oper und über Grundsätzliches zur Musik, vor allem der zeitgenössischen Musik, und ich danke Ihnen für die anregenden Gedanken. Diese bringen mich dazu, Ihnen auf Ihre Aussagen, die ich als Fragen uminterpretiere, aus meiner Sicht und Kenntnis reflektierend Antwort zu geben.
Was legitimiert diesen Ihnen sicherlich Unbekannten dazu, werden Sie sich fragen – und diese unaufgeforderte Mail in den Papierkorb transferieren. Schade…. Falls nicht, mache ich jetzt weiter. Kurzum: Ich bin deshalb willens, Ihnen zu antworten, weil ich mich beruflich wie privat in mancherlei Hinsicht mit den von Ihnen angesprochen Fragen (die der Moderator an Sie stellte) ebenfalls beschäftige. Und in den meisten Fällen, nun, … zu anderen Antworten komme. Und weil ich es sportlich mag, erlaube ich mir, mich für einen Moment zu Ihrem Sparringpartner zu machen. Folgt nun der Klick in den Papierkorb? Nein? Dann los.
1. Die „Stärke“ der Oper sei Ihre Charakterisierung des Menschen oder Menschen durch Text und Musik. Aber, frage ich mich, warum ist dies ausgerechnet die Stärke der Oper? Ist es nicht vielmehr die Stärke der populären Musik? Freilich, ich verstehe, die Oper würde diese Stärke auch heute noch gerne für sich in Anspruch nehmen. Weil sie damit eine im 17. Jahrhundert geborene und im 18. und 19. Jahrhundert zur Höchstform aufgelaufene Kunstform (gemessen an ihrer Dauerrepräsentanz im Abonnement-Repertoire) ins 21. Jahrhundert rechtfertigend verlängern könnte. Mit der bis ins 19. Jahrhundert hinein existenten höfischen, gesellschaftlichen und bildungsbürgerlichen Relevanz (Antikenschwärmerei einiger norditalienischer Adliger, Selbstvergewisserung des Absolutistischen, Unterhaltungstheater, Geschichtsdeutung) hat das aber im 21. Jahrhundert längst nichts mehr zu tun. Sie könnte und kann dies außerhalb des Feuilletons auch nicht mehr leisten, Dank unmodisch gewordener Theatralik und überwältigender Konkurrenz zur medialen Wirklichkeit. Once Upon a Time in the West ist eine moderne Oper (und entsprechend hat Ennio Morricone hierzu auch die ikonische Musik komponiert), Inception ist eine moderne Oper - und Hans Zimmer wurde für die musikalische Untermalung des philosophisch angehauchten Melodrams zu Recht für den Oskar nominiert.
2. Die zahllosen mediokren oder schlechten Opern, insbesondere im 19. Jahrhundert, gegen die sich "die crème de la crème de la crème" absetzte als Negativfolie? Da würde ich dann doch sehr widersprechen. Die Geschichte lehrt, dass es so einfach nicht ist. Ich nehme nicht einfach nur wahr, was um mich herum schlecht ist und mache es, weil ich talentierter bin, besser. Das ist doch oder wäre plumpes Geniedenken. Stattdessen ist es immer ein Wettbewerb von vielen unterschiedlichen Stimmen zur gleichen Zeit mit vielen Entwürfen, Konzepten, Utopien, Versuchen; und die Entscheidung, wer letztlich vor dem Publikum und on the long run vor der Geschichte siegt, trifft nicht der Autor, der selbstbewusst behauptet: „Ich weiß, wie man ein herausragendes, repertoirewürdiges Kunstwerk schafft und besitze auch das künstlerische Potential dazu, dies umzusetzen“. So denkt aber doch nur ein Lehrerkomponist, weil er ja "Regeln" lehren kann, die er gelernt hat, aber nicht ein Künstler, oder? Ein Künstler strebt zwar das ultimative Kunstwerk an, ist aber doch stets von Zweifeln getrieben und durch sein Talent und begrenztes Können beschränkt, oder nicht? (Erliege ich da einer romantischen Täuschung?). Das "Genie" war und ist immer nur eine Projektion. Waren Mozart und Mahler Genies? Ich schätze beide aus unterschiedlichen Gründen sehr, aber das ist subjektiv und hat mit meiner musikwissenschaftlich geschulten Einschätzung nichts zu tun; mit Beethoven kann ich weniger anfangen, Wagner - wie sie ebenfalls sympathischer Weise zugeben - noch weniger, obwohl ich ihn als kunstfertigen Tonsetzer handwerklich und wirkungsästhetisch respektiere. Jedenfalls trifft die letztgültige Entscheidung, ob ein Kunstwerk jenseits des individuellen Urteils ästhetisch genügt, eine peer group (Publikum, Rezensenten, Medienverteter, Programmmacher, Interpreten), unabhängig vom eigentlichen Wollen des Künstlers. Ob es gelingt, erweist sich immer erst post festum.
3. Ihr Traum sei, das, was Menschen heute bewegt, in Töne zu fassen (Motto: „so klang das 21. Jahrhundert“). Aber, lieber M-E., das ist doch alles schon vorhanden, alles ist längst da, seit vorgestern, gestern jetzt und heute und wird im Moment, wo es stattfindet, bereits von der Geschichte bewertet - und nicht von einem Einzelnen „gemacht“. Solches ist geschichtsphilosophische Verblendung. Dass man Geschichte machen könne, nur, weil man es besser zu wissen meint (nur, weil man allgemeingültige Regeln, wie Geschichte funktioniert, erkannt zu haben meint), ist als Ideologie vor allem im 20. Jahrhundert auf vielfältige Art gescheitert; tragisch vor allem im Politischen.
4. Und dass in der Musik, anders als in den anderen Künsten, das „Alte“ so sehr dominiere, ist natürlich längst nicht so unergründlich, wie von Ihnen vermutet. Es ist nur verständlicherweise schwer, den wahren Grund als tonsetzerisch tätiger Künstler im Hier und Jetzt zuzugeben, insbesondere, wenn der Künstler, oder die Künstlerin, im E-Sektor heimisch sein und dort von den anderen Anerkennung Suchenden oder deren Verteidiger anerkannt sein will. Die Literatur heute bedient sich der Sprache wie zu allen Zeiten: Ein Baum ist ein Baum ist ein Baum, aller formalen Experimente mit Texten, Dekonstruktionen und verschiedener -ismen zum Trotz. Und die bildende Kunst wird und wurde stets symbolhaft „gelesen“. Ein gemaltes Bild wird immer sinnhaft rezipiert (anders funktioniert der Augensinn nicht), ob es nun naturalistisch, realistisch oder abstrakt daherkommt, denn auch eine bloße Farbtönung oder eine dem action painting geschuldete Kleckserei weckt Empfindungen, formt sich zu einem – vielleicht auch nur ausschließlich meinem – Narrativ über meine damit verknüpften individuellen Assoziationen. Aber die Musik? Klangkonstrukte, Töne sind in gutem Sinne "sinnlos". Das, was tatsächlich berührt und nicht nur abstößt oder dem unverstanden (weil unverständlich) applaudiert wird - hurz! -, das gibt es ja jenseits der E-Musik-Szene im Radio täglich, oder auf Spotify, oder überhaupt auf Streaming-Plattformen, oder im Kino… Nur eben nicht dort, wo subventionierte E-Musik mit avantgardistischem Anspruch stattfindet. Dort gilt Helmut Lachenmanns Verdikt: "Kunst ist nun mal kein Lutschbonbon vor dem Schlafengehen".
Wie stand in der „Welt“ zu lesen anlässlich der Uraufführung Ihrer Oper von Freaxs? „Komponist mit ziemlich mittelmäßiger Begabung, aber vielen Aufträgen. Er weiß gut auf der Medienklaviatur zu klimpern“ usf. Das ist natürlich bösartige, übelwollende und in höchstem Maße unsachliche Kritik. Andererseits … Es trifft den Kern. Natürlich nicht ihrer künstlerischen Arbeit, sondern der Wahrnehmung ihrer Arbeit von einer bestimmten peer group. Und diese subjektive Wahrnehmung ist so gut oder so schlecht, wie andere Qualifizierungen auch. Nichts ist damit über die Qualität der künstlerischen Arbeit ausgesagt, nur über die öffentliche Wahrnehmung des Künstlerischen durch Diskurscliquen und ästhetische Machtkartelle. Es ist auch unabhängig davon, ob Künstler oder Künstlerin selbst ihre Arbeit als gelungen oder weniger gelungen einschätzen. Von Morricone weiß man, dass er darunter litt, dass man ihn weitgehend nur als Filmmusikkomponisten schätzte, auch Enjott Schneider wäre (was kein Geheimnis ist) gerne vor allem ein geschätzter Komponist der zeitgenössischen Klassik, aber… Und das ging schon Erich Wolfgang Korngold so. Nichts Neues also. Und vice versa: Lachenmann hat sogar Morricone-Filmmusik für Klavier arrangiert, aber natürlich nur für den privaten Gebrauch... (hat er mir erzählt).
4. „Popmusik ist auf dem künstlerisch schlechtesten Stand seit Langem… Weil da noch melodisch gut komponiert wurde.“ Wirklich? Das meinen Sie nicht ernsthaft, oder? Was soll das denn den heißen, „melodisch gut“? Und handwerklich gelungen? An was gemessen? Auf Grundlage welcher verbindlichen Norm? Das sind doch anmaßende Begriffe. Natürlich kann ich auch einen Popsong nach handwerklichen Kriterien bewerten. Das habe ich in meiner Schulzeit vor allem im Musikunterricht am Gymnasium in den 70-er Jahren quälend und völlig unverständlich – weil auch vom Musiklehrer nicht verstanden - an Beatles-Stücken durchexerzieren müssen. Dabei ist gerade der an der Klassik geschulte Begriff des kompositorischen Handwerks (reichhaltige Harmonie, formale Logik, Instrumentation etc.) völlig nebensächlich und irreführend. Und auch der Melodiebegriff ist fragwürdig. Popmusik ist – wie alle künstlerische Arbeit – an der Funktion zu messen (wird sie dieser angemessen gerecht?), und an dem, wie Sie Ihre selbst gestellte, eben der Funktion geschuldete künstlerische Aufgabenstellung materialiter bewältigt. Da ist eine einfache Melodie und Harmonieführung manchmal zielführender, als alles Elaborierte und Verkrampfte (Mozarts Kleine Nachtmusik, Schuberts Träumerei, Abbas Waterloo, Helene Fischers Atemlos, DJ Ötzis Ein Stern, der Deinen Namen trägt…) Ich muss das nicht mögen, aber ich habe davor den größten Respekt. Und eine Melodie schreiben ist Ihrer Erfahrung widersprechend - die natürlich nicht die meine ist - nicht gar so schwer; eine Hit-Melodie schreiben dagegen schon. Warum? Weil es eben nicht auf mein Urteil als Autor/Komponist ankommt. Also ist es auch in letzter Konsequenz nicht lehrbar. Das Hit-Schreiben dürfte keinem wirklich gelingen, denn dann hätte man den Schlüssel zum ökonomischen Glück gefunden (vielleicht hatte dies einmal für einige Zeit und in seinem begrenzten Genre Dieter Bohlen?). Akademisches Melodieschreiben nach Regeln haben Sie aber sicherlich auch nicht gemeint. Und wenn ich die Frage stellen würde, was denn von all dem, was heute im klassischen (E-Musik-) Sektor mit staatlichen und förderpreislichen Subventionen gefüttert komponiert wird, wohl die Zeit überdauern wird, sähe es sehr, sehr mau aus. Ich wüsste wenig bis nichts zu nennen, was nicht durch popkulturellen Kontext bereits dem kollektiven Gedächtnis eingeschrieben wäre: Etwa Gustav Mahlers Adagietto aus der 5., György Ligetis Filmmusiken zu 2001 und Shining oder Carl Orffs O Fortuna, oder das Eine oder Andere aus dem Soundtrack von La Grande Bellezza. Komisch, wieder alles vorzugsweise in Verbindung mit der Kunst des laufenden Bildes… vermutlich meiner eingeschränkten Erfahrung geschuldet?
Lieber M.E., irgendwie war es mir ein Bedürfnis, diese flüchtigen Gedanken, die durch Ihren Beitrag angeregt wurden, mitzuteilen. Sollten Sie bis hierher durchgehalten haben, danke ich Ihnen herzlich. Falls nicht, ebenfalls (aber, dann lesen Sie das ja auch nicht mehr …).
Auf jeden Fall und in diesem Sinne, mit herzlichen Grüßen
Ihr
Reiner Nägele
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Lieber Reiner Nägele,
vielen Dank für Ihre nette Mail, die natürlich nicht in meinem Papierkorb landet. Ich nehme natürlich sehr ernst, was Sie schreiben, wundere mich aber über einige Missverständnisse über meine Intentionen, die aber vielleicht auch darauf beruhen, dass ich mich nicht klar genug ausgedrückt habe. Aber das ist ja alles ein Teil eines Diskurses und wahrscheinlich völlig ok.
Eines dieser Missverständnisse (wenn ich das höflich so sagen darf) ist zum Beispiel ihre Einschätzung meiner Ausführung über die Stärken der Oper (zu 1.). Mir ging es nämlich ganz dezidiert nicht darum, die Oper in eine Konkurrenz zum Beispiel zum Film zu bringen. Sie sehen es ganz richtig, dass der Film heutzutage vieles von dem erfüllt, was zum Beispiel die Oper oder das Theater im 19. Jahrhundert leistete (und wollte). Aber dass ein neues Genre (Film) entsteht, heißt nicht, dass das alte Genre obsolet ist. Die Erfindung des modernen "Romans" hat nicht das Theater (das älter ist) "abgeschafft". Sie hat aber das Theater sehr verändert. Theaterstücke nach der Erfindung des Romans funktionieren anders und wurden auch anders geschrieben, das kann man sicher sagen. Die schnellere und prägnantere "Kurzgeschichte" hat wiederum keineswegs den "Roman" (der älter ist) "abgeschafft". Sie hat aber auch den Roman verändert - heute sind wir beim Lesen wesentlich mehr gewohnt, dass Schauplätze und Erzählfiguren wechseln, viele aktuelle Romane bestehen aus lauter kleinen Kurzgeschichten aus verschiedenen Perspektiven, wogegen früher eher kontinuierlich erzählt wurde. Und der Film hat nicht das Theater und die Oper (oder Bildergeschichten = Comics) oder die Fotografie sinnlos gemacht, aber sowohl die Oper als auch die Bildergeschichten als auch die Fotografie haben sich nach Entstehung des Films sehr verändert. All diese Ausdrucksformen können aber ganz wunderbar nebenher existieren, und sie sind dann am stärksten, wenn sie sich auf ihre Stärken, nicht auf ihre Schwächen besinnen.
Die Oper kann mit dem Film was die Qualität des Spektakels und der Überwältigung angeht nicht mithalten, daher macht es auch keinen Sinn, wenn sie damit konkurriert. Sie kann aber eine Form von emotionaler Tiefe und Subtilität erreichen, die der Film tatsächlich nicht erreicht, und dafür hätte ich zahllose Beispiele - "La Traviata" ist da hundertmal intensiver als "Inception" (was nicht heißt, dass "Inception" schlecht ist). Eine einzelne Arie von Mozart kann komprimierter und vor allem über die unbewusste Sprache der Musik über eine Figur erzählen als es selbst einer sehr guten Serie in mehreren Folgen mit mühsam konstruierten Dialogen und Szenen gelingen kann. Die zeitgenössische Oper arbeitet sich oft an abstrakten Konzepten ab und vergisst diese eigentliche Stärke der Oper, das war eigentlich alles, was ich sagen wollte. Ich sehe viel zu wenige moderne Opern, die sich für Figuren interessieren, das wollte ich kritisieren. Es ist eher eine Kollegenkritik.
Zu 2. Ihre Ausführungen über Genies und das 19. Jahrhundert habe ich gerne gelesen, aber ich habe nicht wirklich verstanden, auf was meiner Ausführungen sich das jetzt bezieht. Ich hatte in der Diskussion argumentiert, dass wir im 19. Jahrhundert eine sehr lebendige Opernlandschaft mit extrem vielen Protagonisten hatten, die in einer gesunden Konkurrenz standen. Konkurrenz gekoppelt mit vielen Möglichkeiten sich zu beweisen fördert immer die Qualität der Leistung, das ist im Sport wie in der Musik so. Ein Richard Wagner konnte mit seinen ersten Opern saftig scheitern und bekam dennoch die Gelegenheit, seinen Stil zu entwickeln, bis er seinen eigenen Ton gefunden hatte.
Heutzutage dagegen schreiben viele Komponisten Opern, weil sie denken, es werde irgendwie von ihnen erwartet. Und sie schreiben dann auch meist nur eine (so wie Lachenmann oder Ligeti), aus dem einen oder anderen Grund. Es gibt auch wesentlich weniger Möglichkeiten, sich auszuprobieren - zeitgenössische Opern kommen im Spielplan nur zu 5% vor, der Rest ist fast ausschließlich nach wie vor 19. Jahrhundert, es ist einfach kein Platz für Neues, daher wird weniger Neues aufgeführt und es gibt auch weniger gesunde Konkurrenz und die Möglichkeit, dass sich unterschiedliche Ansätze beweisen und in einem fruchtbaren Wettbewerb befinden. Allein darum ging es mir, nicht um eine Diskussion des Begriffes "Genie", die interessiert mich überhaupt nicht.
Dass dieser Zustand historische wie auch ästhetische Gründe hat, ist mir bewusst, ich glaube aber auch daran, dass so etwas ständig in einer Entwicklung begriffen ist. So war zum Beispiel das Musical/die Operette einmal eine wichtige Neuentwicklung aus der Oper heraus im Sinne einer funktionierenden populären Form, heute ist die Musicallandschaft z.B. künstlerisch tot, es wäre aber sehr spannend, aus dem modernen Musiktheater wieder auch populäre Formen zu entwickeln, für die man sich nicht wie bei einem Webber-Musical schämen muss. Diese Chance sollten unsere Opernhäuser bieten, ich sehe aber nur musealen Betrieb, der krampfhaft durch oft missverstandenes "Regietheater" und kleine Skandälchen am Leben erhalten wird. Diesem Zustand galt meine Kritik.
Zu 3: Auch hier verstehe ich nicht wirklich, was Sie meinen. Sie setzen da Dinge, die ich gesagt habe in Bezug zu Dingen, die ich nicht gesagt habe. Warum beinhaltet mein Wunsch, ein Chronist der Gefühle einer Zeit zu sein, automatisch die Arroganz zu ignorieren, dass dies schon täglich geschieht und auch in Zukunft geschehen wird? Natürlich haben Sie damit Recht, aber warum ist das dann plötzlich "geschichtsphilosophische Verblendung", wenn ich dies als meine Motivation beschreibe? Ist es verblendet, wenn ein Läufer sagt, er würde gerne schneller laufen, wenn vor ihm das schon welche getan haben, und es auch nach ihm welche tun werden? Ist es nicht dennoch eine gültige Motivation, mit der er seine Leistung steigern wird?
Sich das Einfühlen in das Lebensgefühl und die Leiden einer Zeit zur Aufgabe zu machen anstatt dem Feuilleton oder der Musikkritik gefallen zu wollen oder sich um Anerkennung in der "Szene" zu bemühen war alles, was ich zum Ausdruck bringen wollte, und das ist in unserer vornehmlich von akademischer Anerkennung geprägten zeitgenössischen Musikwelt durchaus ein radikales Statement, zu dem ich 100% stehe.
Zu 4.: Wieder einmal wundere ich mich: wo habe ich gesagt oder behauptet, dass die Dominanz des Alten in der Musik "unergründlich" ist? Ich habe genau dies in dieser Diskussion meines Wissens ein bisschen erklärt, mir sind die Gründe dafür bewusst, ich habe aber auch gesagt, dass die Hinwendung zum Neuen eine Notwendigkeit ist. Dass für viele dies eine unbequeme Zumutung ist, ist mir bewusst, aber ich stehe auch dazu - denn es sind eigentlich eher die "Macher" der Oper, also die Intendanten und Dramaturgen, die dies als Zumutung sehen, weil es für sie eine Veränderung ihres Arbeitsalltages bedeuten würde, in dem sie es sich bequem eingerichtet haben. Das Publikum wäre von 50% neuen Stücken im Spielplan keineswegs so geschockt, wie viele vermuten, und das Publikum, das davon geschockt wäre, ist auch nicht das Publikum, das interessant ist, das wäre ungefähr so, als wenn man lauter Couch Potatoes als relevant für die Zukunft des Sports deklarieren würde. Für Dinge, die es wert sind, lohnt es sich definitiv, auch mal den Arsch hochzubekommen. Kunst muss sich nicht dafür rechtfertigen müssen, auch mal "anstrengend" zu sein. Gleichzeitig muss sich ein Künstler auch nicht vor dem Feuilleton davor rechtfertigen müssen, auch mal verständlich oder unterhaltsam zu sein. Bequemlichkeit und Denkfaulheit sind nie guter Nährboden für relevante Kunst, leider dominieren diese im heutigen Opernbetrieb.
Zu (nochmal?) 4: Ja, Popmusik ist auf dem qualitativ (sic!) tiefsten Stand seit ihrer Erfindung. Dazu stehe ich zu 100%, und die vielen Popmusikkollegen, die ich kenne würden mir hier vollen Herzens zustimmen, und die sind aus dem Metier (dabei natürlich ihre eigene Musik ausnehmend). Ich rede hier von Main-Stream-Popmusik, also eben von DJ Ötzi, Justin Bieber und Konsorten, nicht etwa von Björk, alt-Q oder Peter Gabriel. Nein, das ganz normale Gedudel, das uns so überall beschallt. Filmmusik, Jingles, Popmusik - all dies ist nur noch ein Schatten der musikalischen Qualität, die einmal Standard war. In den 60er Jahren war Frank Sinatra Mainstream - auf einer berühmten Platte wie In the Wee Hours of the Morning spielt ein Orchester mit hervorragenden Arrangements von ausgebildeten Komponisten, die Songs sind großartig komponiert, die Texte haben große poetische Qualität, es ist wunderbar und höchst kapabel gesungen usw. Wenn man das mit heutigem Mainstream oder irgendeiner Boyband vergleicht, kommen einem die Tränen. Und wenn Sie Hans Zimmer loben und gleichzeitig Ennio Morricone kommen mir auch die Tränen, denn Hans Zimmer ist - mit Verlaub - noch nicht mal das Toilettenpapier von Ennio Morricone wert, es ist als würde man eine Coladose mit der Venus von Milo vergleichen. Und ich rede hier wirklich von musikalischem Talent, und ja, da gehört selbstverständlich auch die Fähigkeit, melodisch überzeugend zu komponieren, das habe ich als einen Aspekt erwähnt, und könnte Ihnen als Komponist auch sehr genau erläutern, was an Melodiebildung rein handwerklich anspruchsvoll ist, und was daran die Herausforderungen sind. Ich wüsste auch nicht, warum der Aspekt "Melodik" jetzt plötzlich nicht mehr wichtig sein soll - ich finde das ein wahnsinnig spannendes und interessantes Feld, genauso wie alle anderen musikalischen Mittel.
Ich könnte endlos weiterreden über z.B. den Verfall der Qualität von Filmmusik, was die qualitativen Unterschiede von z.B. Motown aus den 50er/60ern zu durchschnittlichem HipHop-Müll sind (wenn wir zum Beispiel über afroamerikanische Musik sprechen) usw., kann aber immer nur betonen, dass ich hier vom Mainstreamdurchschnitt rede, nicht etwa von den hochwertigen Sachen, die es selbstverständlich auch heute gibt. Ich bin einfach immer wieder erschüttert, wie zum Beispiel der deutsche "Chanson" oder "Schlager" eine Entwicklung von Comedian Harmonists und Friedrich Hollaender (damals Mainstream und Äquivalent zu heutigen "Nummer 1" -Hits) zu Ralph Siegel und Helene Fischer hin durchmachte, und das ist - dem können Sie als Musikwissenschaftler doch gar nicht anders als zustimmen, sorry - definitiv ein wahnsinniger Qualitätsabfall.
Die Gründe dafür kann ich sehr genau erkennen, geschenkt, aber dennoch darf ich doch meine Traurigkeit über diesen Niedergang zum Ausdruck bringen? Der natürlich mit dem Wunsch verbunden ist, dass sich diesbezüglich etwas ändert und man sich mehr Mühe gibt?
Kulturhistorisch gab es immer wieder Phasen der Dekadenz und des Niedergangs, gefolgt von Episoden der Erneuerung und der Impulse. Die letzte wirklich musikalisch extrem fruchtbare und richtiggehend aufregende Epoche der Popmusik waren z.B. die 60er bis 80er Jahre, darüber sind sich eigentlich alle einig. Danach arbeitet man sich eigentlich vor allem an den in diesen Jahrzehnten gefundenen Mustern ab, und es gibt nur vereinzelte neue Impulse, die nicht mehr so stark wirken, wie z.B. es den "Beatles" zweifellos gelang. Und nochmal: das heißt natürlich nicht, dass es danach nichts Aufregendes gab! Aber Dj Ötzi gehört ganz, ganz sicher nicht dazu :-)
Dies nur als ein paar Gedanken...
Viele Grüße,
Moritz Eggert
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Lieber Moritz Eggert,
jetzt haben Sie mich aber wirklich mit Ihrer ausführlichen und bedenkenswerten Antwort verblüfft. Damit hatte ich, ganz ehrlich, nicht gerechnet. Es ist einfach so: Wenn man in dem Metier des Musikmachens und -studierens unterwegs ist - als Musikwissenschaftler und Musiker -, und sich somit zwangsläufig Gedanken macht über „sein“ Metier, ist es reizvoll, diese Gedanken gelegentlich mitzuteilen, vor allem dann, wenn sie sich reiben oder, wenn man glaubt, dass sie sich reiben. Nun schreibe ich Ihnen keineswegs zurück, um den Dialog einseitig zu verlängern, aber Ihre sehr ausführliche und gedankenreiche Antwort, die ja auch wiederum eine Kritik an meiner Wahrnehmung und Interpretation Ihrer Aussagen ist, verlangt meinerseits nach einer sanften aber nachdrücklichen Korrektur, aus meiner Sicht. Es geht allerdings nicht um Abschwächung, sondern um Schärfung.
Zunächst: natürlich habe ich mich in meiner Replik auf Ihr Interview einer (zugegeben) stark überspitzten Polemik bedient (Helene Fischer, DJ Ötzi, Bohlen), die ich gar nicht argumentativ unterfüttern will und kann, die aber schlicht dazu diente auszutesten, inwieweit die erwartbaren Reaktionsmuster greifen, die – so meine ich – eine tiefere Reflexion darüber verhindern oder erschweren, was Gegenwartskunst im emphatischen Sinne ist und sein kann, jenseits ihres subventionierter Habitats, jenseits von Gewohnheit, Tradition und Trägheit.
Ich widerspreche keineswegs Ihrer Aussage, dass in einem bestimmten Genre das Neue das Überkommene nicht zwangsläufig ersetzen, verdrängen muss, vielmehr lehrt uns die Geschichte ja tatsächlich, das das Neue die traditionellen Formen vielfach verändert und so ein Weiterexistieren der alten garantiert. Die vielfach totgesagte Oper ist ja paradigmatisch der lebende Beweis. Dennoch ist die bloße Existenz kein Beleg für eine notwendige solche. Dass es die Vinylplatte immer noch gibt, trotz Streamingdiensten, ist kein Beleg dafür, dass es Sie heute aus funktionaler Sicht für die Verbreitung künstlerischer Werke noch geben „muss“; sie ist ein nostalgisches Relikt, das man mit Authentizitätsgefasel zu erklären versucht: phonographisches Manufactum; … ich gebe aber zu, dass auch hier natürlich ernsthafte Versuche gibt, dieses Medium künstlerisch zu „retten“, vergleichbar der analogen Fotografie, trotzdem…. Trotzdem bleibt maßgeblich für ein „Überleben“ im ursprünglich gedachten Sinne allermeist die institutionell gefestigte Tradition und deren Trägheit.
Und nun zur Oper: Ja, wir sind gar nicht so weit auseinander, wenn Sie die Repertoireopern seit der Mozartzeit bis zu Franz Schreker, Richard Strauss, Korngold ins Feld führen (und einige Händel- Hasse- und Gluck-Arien natürlich nicht ausgenommen). Danach aber wird es sehr, sehr dünn, was den realisierten Anspruch von emotionaler Tiefe und Subtilität angeht; gemeint ist: wahrnehmbarer und damit im Moment der Darbietung bereichernder Subtilität, die sich nicht nur in der Lektüre des Notentextes nachvollziehen lässt. Und dass mich die Darstellung einer „Figur“ im Sprech- und Musiktheater zutiefst emotional berührt, ist ohne eine überzeugende, durch Intrigen motivierte Geschichte nicht denkbar. Dann erst greift auch die Musik: Prima le parole e poi la musica. Und da denke ich, haben sich doch in der Musikgeschichte die Prioritäten verschoben, ja geradezu umgekehrt: Im funktionsharmonischen Kosmos kann mich auch die zur Kadenz strebende Musik berühren, ohne, dass ich den Text und den Zusammenhang en detail verstehe (hier hat die Popmusik höchst erfolgreich das vulgarisierte Erbe angetreten). In einer nicht primär Dur-Moll-tonalen oder modalen Klangwelt gelingt das nicht oder ausschließlich nur für diejenigen, die mit dem eigenwilligen System vertraut sind, die zum inner circle gehören und bereit sind, der jeweils individuellen Logik des Komponisten zu folgen (das ist beispielsweise für mein Empfinden auch schon bei Wagner der Fall). Wie grenzt sich die „moderne“ Musik gegen die populäre ab? Indem sie sich exakt „den Konventionen der populären Musik verweigert“ und mehr oder weniger konsequent „die Dur-Moll-Tonalität, regelmäßige Rhythmik, eine auf dem Konsonanz-Dissonanz-Gefälle basierende Harmonik, Wiederholungen jeglicher Art und großräumige Melodik ausgrenzt“. Damit aber auch das Hören erschwert und die unreflektierte emotionale Resonanz in der unmittelbaren Wahrnehmung erschwert, wenn nicht gar unmöglich macht. Tut sie das nicht, fallen die Kritiker über den Komponisten her, und der Vorwurf der bloßen Effekthascherei, des Musical-haften, Epigonalen, sich plump Anbiedernden steht im Raum bis hin zur Leugnung jeglichen ernsthaften Kunstwillens durch eine kleine, aber eben einflussreiche kritische Öffentlichkeit. Ich will hier keineswegs die musikalische Moderne, wo genau sie immer auch beginnen mag, schlecht reden (im Gegenteil: Ich finde Sie persönlich faszinierend und geschichtlich notwendig; dies aber, weil ich den Traditionszusammenhang kenne und nicht „emotional“ naiv nach meinem Höreindruck urteile). Und im Film ist die Funktion der Musik eben noch der ursprünglichen Tradition entsprechend: Prima la musica e poi le parole. Ohne Musik wäre die Gefühlslage und Motivation einer zweidimensionalen Figur auf der Leinwand unverständlich, ja oft auch die Einschätzung des Verlaufs einer Handlung als gut oder bedrohlich. Das ist es, was ich mit der Gegenüberstellung von Filmmusik und Opernmusik meinte. Ich bin durchaus der Meinung, dass die Frage berechtigt ist, inwieweit das moderne, neue Musiktheater in Konkurrenz zu den entsprechenden populären Genres innerhalb der heutigen Medienlandschaft mehr als bloß eine der Tradition geschuldete künstlerische Existenzberechtigung nachweisen kann? (Das ist natürlich eine rein theoretische Frage, ich bitte, das richtig zu verstehen). Die vermeintlich „größere emotionale Tiefe und Subtilität“ nehme ich aus oben genannten Gründen leider nicht als schlüssiges Argument wahr.
Zu 2.: Ich stimme Ihnen hier vorbehaltlos zu. Erlaube mir aber die Anmerkung, dass es zu allen Zeiten – insbesondere im 19. Jahrhundert - zu 95% klein- und kleinstmeisterliche Musikerzeugnisse von Instrumentalkonzerten bis zu Opern gegeben hat, die den Tag nicht überlebten; auch da waren ein bis zwei Aufführungen die Regel; dann wars vom Konzert- oder Opernplan verschwunden. Und bei manchen, wie z.B. Wenzel Müllers Machwerken, garantierte auch die jahrzehntelange Popularität keine dauerhafte Präsenz im Repertoire (heute vergessen und in den Archiven verstaubt). Zu Recht natürlich, gemessen an den „Großen“. Ich hatte das Glück, dies einmal sehr gründlich untersuchen zu dürfen anhand der Rekonstruktion von Leben und Werk des Hofkapellmeisters und Komponisten Peter Lindpaintner. Und mein berufliches Kuratieren verschiedener großer historischer Musikaliensammlungen (in Stuttgart und heute in München) mit der Fülle von über die Zeit Vergessenem hat diesen Eindruck auch faktisch untermauert. Und ist die Frage nicht berechtigt, Warum „einfach kein Platz für Neues“ da ist? Die ängstliche Zurückhaltung der Intendanten und Subventionisten sind sicherlich ein Argument, aber ein schwaches und nachgeordnetes. Weil aus gesellschaftlicher Sicht es kein Bedarf mehr gibt? Weil die Sprache (musikalisch begleitetes Dialogtheater) nicht mehr zeitgemäß ist? Weil es unsere Gegenwart, unsere gesellschaftlichen Bedingungen, unsere Utopien, Ängste und Phantasien und auch unser Menschenbild schlicht und einfach nicht mehr angemessen repräsentiert? Weil es emotional nicht mehr in gleicher Weise berührt, wie es eine Verdi-Oper (Meyerbeer-, Mozart-…, ja, auch Wagner-) leisten, auch wenn die Komponisten sich das gerne anders wünschen? "Es ist nun Mal eine Sache allein des Rezipienten, einen Wert zu erkennen oder ihn von außen zu erlauschen. Insofern stellt sich für mich nicht die Frage, ob etwas stachlig ist oder ob man als schaffender Mensch so etwas suchen muss, um das Schaffen zu rechtfertigen“ (Matthias Pintscher hat das mal gesagt). Ich meine, die Fragen darf man zumindest stellen, und anders als Adorno meine ich, dass nicht immer nur das Publikum zu dumm oder ungebildet oder noch nicht ausreichend geschult ist. Seit 1910, oder so ungefähr, ist immerhin auch schon mehr als ein Jahrhundert ins Land gegangen. Da war eigentlich Zeit genug…
P.S.: Das mit dem „Genie“ war nur als Kritik am Werkbegriff der Musikwissenschaft und der traditionellen Musiklehre gemeint. Vermutlich habe ich Ihren Aussagen etwas unterstellt, was sie gar nicht meinten. Meine Meinung: Der Wert eines Werkes, liegt nicht im Werk selbst begründet, den Stilmitteln, Subtilitäten und handwerklichen Details, also seinem vom Komponisten eingebrachten künstlerischen Anspruch, sondern ist und bleibt einzig eine Zuschreibung der Rezipienten und der zeitgenössischen Verhältnisse – Markt, Vermarktung, Konkurrenz, Medien.
Zu 3.: Keineswegs wollte ich „Arroganz“ unterstellen, sollte es so geklungen haben, war es meiner vielleicht etwas unglücklich gewählten Rhetorik geschuldet, nein: Auch hier eigentlich eine ganz schlichte Annahme meinerseits: Als überzeugende Chronisten „der Gefühle einer Zeit“ sehe ich tatsächlich eher die populären Erzeugnisse, sonst würden diese nicht so viele Hörer ansprechen. Was keineswegs ihr radikales Statement gegen eine „von akademischer Anerkennung geprägten zeitgenössischen Musikwelt“ in Frage stellen soll, ich teile dies 1:1, hatte nur – vorschnell – den Eindruck beim Hören des Interviews, dass eine Priorisierung behauptet wird: Die klassische E-Musik sei weitaus besser und gültiger und „subtiler“ in der Lage, diese Chronistenpflicht oder –kür zu leisten. Meine Kritik wollte diese (ungerechtfertigt unterstellte) „Anmaßung“ schlicht relativieren.
Zu (nochmal) 4. und ihrer Aussage, die Popmusik sei qualitativ auf dem tiefsten Stand seit ihrer Erfindung. Da will und muss ich als „Historiker“ meine Bedenken anmelden. Ist die Qualifizierung von „gut“ und „schlecht“ nicht eine Frage der Kriterien, des urteilenden Maßstabes? Dies redet keiner Anything-Goes-Mentalität das Wort, ganz im Gegenteil. Ein Argument habe ich oben schon genannt: Zu allen Zeiten, in allen Kunstgattungen gab es weit mehr „Gebrauchskunst“ für den Tag, als das Wenige, was wir heute geschichtsklitternd als „überzeitlich“ und ewiggültig wertschätzen. Und, nochmals seis betont, wir sind uns ja, was unsere Vorlieben und unsere Wertschätzung anbelangt, gar nicht fremd. Ich meine aber doch und hier anders als Sie argumentieren, dass nur unter einem ganz eingeschränkten Blickwinkel und unter Ableitung von künstlerischen Techniken aus der Hochkultur diese Urteile gerechtfertigt sind. Es geht nicht darum, Zimmer und Morricone gegeneinander aufzurechnen; natürlich ist Morricone der „bessere“ Komponist, weil er ein klassisch geschulter ist, der sein Handwerk versteht und zugleich „originell“ ist und fraglos Ikonisches geschaffen hat (neben einigem Beiläufigen, Vergessenswerten); aber Hans Zimmer mit seinen am Mischpult auf Effekt produzierten Überwältigungssound funktioniert eben genauso perfekt für die Art von Blockbustern, die eine ganz andere Art der musikalischen Begleitung und Gefühlsdeutung fordern. Das hätte Morricone anders gemacht, aber besser? Und Quentin Tarrantinos Morricone-Reminiszenzen kann man künstlerisch auch nicht als besonders gelungen bezeichnen. Hollaender? Grandios; aber, funktionierte das heute noch? Ich bezweifle dies und sehe und höre beispielsweise Max Raabe und die Kompositionen/Arrangement seines Pianisten mit Bewunderung (gut gemacht, zugegeben) und zugleich Befremden. Funktioniert nur mit auf Ironie gestelltem Gehör. Dieser relativierende, nicht normative Blick und die nicht normative Wertschätzung sind mir ein Grundanliegen. So verstehe ich auch meine Anmerkung zur „Melodie“, von der ich, in aller Bescheidenheit gesprochen, auch ein klein wenig verstehe (s. Werkverzeichnis). Bitte sehen Sie mir diesen Verweis auf das eigene bescheidene künstlerische Schaffen nach, es soll nur der Stärkung meines Standpunktes dienen.
Ein Letztes: Sie sprechen von „Phasen der Dekadenz und des Niedergangs“. So kann man es natürlich sehen, wenn man eine ganz bestimmte Zeit mit Ihren Ausdrucksformen, einen bestimmten Stil oder eine Lehrmeinung als ewig gültige Norm setzt. Das haben die Klassiker auch schon so gemacht (Goethe: Das Klassische ist das Gesunde, das Romantische das Kranke). Und in der Musikgeschichte gibt es genügend Beispiele, gerade auch, was das 19. Jahrhundert als disqualifizierte Zeit der Dekadenz anbelangt. Heute ist der Blick zurück ein anderer, glücklicherweise. Und als Musikwissenschaftler, mithin Historiker, ist mir der Begriff des „Niedergangs“ und der „Dekadenz“ als Qualifizierungsmerkmal längst fragwürdig geworden. Dass etwas ist, sollte uns vielmehr bewusstmachen, dass hierfür eine Notwendigkeit besteht. Gleichgültig, ob mir diese Präsenz persönlich gefällt, oder nicht. Und mein Urteil muss für die Bewertung im gesellschaftlichen Kontext unerheblich sein, sonst kann ich das Phänomen nicht verstehen.
Haben Sie Dank für Ihre Geduld, und fühlen Sie sich bitte nicht gedrängt, zu antworten. Das bisher geführte Gespräch war mir schon eine große Bereicherung.
Dafür Dank und herzlichen Gruß
Ihr
Reiner Nägele
* * *
Lieber Reiner Nägele,
Ich antworte nicht ganz so lang und freute mich trotzdem über ihre Nachricht, wollte aber noch ein paar Gedanken in den Raum werfen:
- Plattenspieler ist ein technisches Medium, Oper ein künstlerisches Genre, man kann beides denke ich nicht in einen Topf werfen.
- Mein Eindruck ist ein bisschen, dass Ihre Vorstellung von Emotionalität oder Nicht-Emotionalität in moderner Oper sehr von den ästhetischen Ideen der "klassischen Avantgarde" geprägt ist, und auch ein bisschen eurozentriert von Funktionsharmonik (was ist mit anderen Formen des Musiktheaters, klassische chinesische Oper zum Beispiel? Kann man das ignorieren? Ich diskutiere solche anderen Ästhetiken ständig mit meinen Studenten, die Idee von "Musiktheater" ist eine uralte und geht letztlich schon auf die Antike zurück, da ist noch so viel möglich, was wir uns vielleicht gar nicht vorstellen können). Auch habe ich das Gefühl, dass Sie vielleicht nicht genügend kennen, was junge KomponistInnen heute schreiben, und dass Sie es nicht kennen, ist nicht ihre Schuld, sondern hat sehr wohl mit Intendantenentscheidungen und dem dekadenten Klassikbetrieb zu tun. Heutige Opern sind wesentlich vielseitiger als sie ahnen, und die junge Generation (mit der ich täglich als Lehrer zu tun habe) interessiert sich schon lange nicht mehr für diese ganze Tonalitäts- versus Atonalitätsdiskussion, sie spielt nicht die geringste Rolle mehr. Sie schreiben mitreißende Musik, benutzen Tonalität oder Atonalität oder was auch immer und scheren sich nicht im Geringsten um irgendwelche alten Darmstädter Dogmen. Als Beispiel mögen zum Beispiel meine Studenten Claas Krause und Christopher Verworner gelten (VKKO-Kammerorchester) - klingt das wirklich noch wie Darmstädter Schule? Das ist aber zeitgenössische Musik von jungen Komponisten von heute, und die beiden sind keineswegs ein Einzelfall. Wir haben heute ein sehr weites Spektrum an verschiedenen Ästhetiken, es gibt da die unterschiedlichsten Ansätze, viele davon sehr mitreißend. In Skandinavien sind zum Beispiel Produktionen zeitgenössischer Opern viel mehr an der Tagesordnung als hier, und diese werden vom Publikum sehr begeistert aufgenommen, und das sind keineswegs autistisch akademische Werke. Wenn ich international schaue sehe ich hervorragende und auch ein großes Publikum begeisternde Opern von Kollegen wie Mark-Anthony Turnage, Michel van der Aa oder David Lang. Es gibt eine sehr lebendige Opernszene mit wirklich attraktiven und mitreißenden Werken, nur wird sie künstlich limitiert in den Spielplänen, man könnte ihr mehr trauen.
Und ganz ehrlich, allein im 20. Jahrhundert fallen mir locker dutzende, wenn nicht hunderte von Opern ein, die eine extreme Emotionalität mit zeitgenössischen Mitteln erreichen. Ich kenne kaum intensivere emotionale Momente als in B.A. Zimmermanns Die Soldaten oder Henzes Bassariden, das kann ganz großartig auch ohne 19. Jahrhundert-Modelle funktionieren.
- "Dekadenz" habe ich ganz gewiss nicht wie bei Goethe als kritische Distanzierung von einer ganzen Ästhetik gemeint. Auch habe ich in keiner einzigen meiner Äußerungen je irgendetwas von einer Überlegenheit von "E-Musik" gesagt - dieses ganze Konzept von E und U interessiert mich nicht und hat mich noch nie interessiert. Wenn ich das 20. Jahrhundert ganzheitlich sehe, steht für mich ein George Gershwin oder ein Duke Ellington gleichwertig neben Claude Debussy oder Igor Stravinsky, das ist doch ganz klar. Es gehört alles zusammen.
Ich spreche von Qualitätsabfall, und der entspricht einem Phänomen, das in der Kulturgeschichte immer wieder zu beobachten ist, schon in der Antike. Selbst im alten Ägypten - das ja wie wir wissen über Jahrtausende eine erstaunlich konstante Zivilisation betrieb - gab es in der Kunst Hochphasen wie auch qualitativ schlechtere Phasen, und das auch manchmal ohne äußeren Einfluss (wie in der Spätphase durch die römische Invasion, wo diese Veränderungen sehr dramatisch werden). Ein Experte kann sich griechische Vasen aus verschiedenen Jahrhunderten anschauen und sieht sofort, dass es da Blütezeiten wie eher qualitativ schlechtere Zeiten gab, manchmal in zyklischer Folge. Schon damals wirkten Faktoren wie beim heutigen Kapitalismus, es gab auch schon "Massenproduktion", und diese senkte die Qualität. Dann gab es wieder Phasen, wo sich neue Ideen durchsetzten, und es wieder interessant wurde, weil diese erst einmal nicht schnell replizierbar waren. Zimmer ist ein guter Sounddesigner, das stimmt, aber das ist heute so trivial und weitverbreitet, dass es künstlerisch vollkommen uninteressant ist. Man wird von ihm nie wie von einem Morricone sprechen, weil sein Beitrag einfach viel unorigineller und kleiner ist, er ist ein Handwerker, kein Künstler. Die große Filmmusik wurde aber tatsächlich von Künstlern geprägt.
Wenn ich jetzt von einem schlechten Stand der Popmusik spreche, haben Sie es glaube ich als generelle Kritik an der Popmusik verstanden, so war das aber gar nicht gemeint. Der Mainstream (in der Trivialkultur kann man immer solche Tendenzen gut ablesen) ist definitiv schlechter und oberflächlicher geworden, dazu stehe ich. Die Gründe hierfür liegen auch in dominierenden Mechanismen der Massenfertigung, genau wie im antiken Griechenland. Das heißt aber nicht, dass es immer so sein muss, denn nach dem Ausverkauf können auch wieder mehr Werte geschaffen werden. Diese Hoffnung habe ich, und schaue hoffnungsvoll auf eine junge Generation, die sich vielleicht mit Epigonentum (Max Raabe, sicherlich gut, aber eben nicht originell) nicht mehr zufriedengibt. Tendenzen dazu sind durchaus zu beobachten, da die junge Generation generell wieder mehr eine Agenda hat als in den letzten Jahrzehnten. Darin liegt großes Potenzial.
Viele Grüße,
Moritz Eggert
PS: Vielen Dank auch für Ihr Werkverzeichnis - sehr beeindruckend! Sie haben bei Hans-Georg Pflüger studiert? Seine Musik schätze ich, er ist leider viel zu früh verstorben...
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Lieber Moritz Eggert,
Ihr Eindruck ist tatsächlich richtig in Bezug auf meine Prägung durch und meine selektive Wahrnehmung der modernen Oper, vor allem hinsichtlich des Umstandes, dass meine tatsächliche Live-Erfahrung mit dieser in der zeitgenössischen Moderne eher rudimentär ist; nicht freilich im Musiktheoretischen oder Analytischen oder insoweit dies für musikforschende Interessen von Belang ist; ich verfüge also über einen eher theoretischen, weniger einen emotionalen Zugang über das Konzerterlebnis. Und meine persönliche Neigung gilt der Kammermusik, oder auch der sinfonischen, mithin instrumentalen Musik. Und wenn Gesang, dann Chor. Eine zutiefst protestantische Prägung. Der Ur-Prägung des bereits einmal zitierten Lachenmann nicht unähnlich, der mir gestand, dass auch er, wie meine eigenen kompositorischen Anfänge, ebenfalls anfänglich Arrangements, Transkriptionen, Bearbeitungen für den Posaunenchor geschrieben habe. Ich habe diese „Übung“ als eine Art kreativer Analyse bis heute beibehalten und, da offenbar hierfür Bedarf besteht, auch auf Nachfrage von Ensembles und Verlagen immer wieder publiziert.
Ihr Eindruck jedenfalls täuscht Sie keineswegs. Dieses Defizit disqualifiziert einerseits oder schränkt zumindest erheblich mein Urteil in Bezug auf modernes Musiktheater ein. Das leugne ich nicht. Andererseits gibt es hierfür Gründe, die nicht nur der persönlichen Interessenslage geschuldet, oder schlicht eine Frage des persönlichen Geschmacks sind - und damit für eine weiterführende Diskussion irrelevant wären -, sondern die unabhängig davon die Grundfrage der Relevanz künstlerischer Produktivität in unserer Gesellschaft berühren. Wobei „Relevanz“ argumentativ von der Rezeption hergedacht ist, und nicht ausgehend davon, dass, was die künstlerischen Entwürfe, Angebote, Schöpfungen generell anbelangt, natürlich prinzipiell alles möglich ist und möglich sein sollte. Das steht außer Frage.
Ja, in der Kunst ist Vieles möglich (Gott sei Dank!) und ja, Emotionalität ist natürlich unabhängig von Tonalität, Freitonalität, Atonalität oder irgendwelchen nationalen Traditionen oder was auch immer. Auf was ich hinaus will ist nicht der persönliche Geschmack und die Erfahrung, die ja immer unterschiedlich ist, je nach Interessenslage.
Die Grundfrage allen Kunstschaffens ist doch, was tatsächlich als „gültige“ Kunst von Seiten der Öffentlichkeit anerkannt und wahrgenommen wird. Das hindert nicht den Künstler, das zu tun, was er, getrieben von künstlerischem Wollen und Müssen, leistet. Die Kunsterfahrung und Geschichte lehrt uns aber, dass erst durch die Akzeptanz der Rezipienten die zunächst bedeutungslose Option zur Kunst geadelt wird.
Das aber ist die Crux; denn einen Markt gefällig zu bedienen kann nicht die Lösung sein; am Markt und Zeitgeschmack vorbei zu produzieren aber auch nicht. Ich will in der Argumentation schlicht weg vom „absoluten“ Kunstwerk, das allein durch den Willen des Künstlers als ein solches die Welt erblickt, und hin zur Wahrnehmung als gültiger Instanz, die letztgültig entscheidet, ob das Produkt des Künstlers als Kunst anzuerkennen ist, oder nicht. D.h. Kunst ist nicht, was der Künstler will, dass es Kunst sei, sondern, was der Kunstbetrachter als solche identifiziert. Und diese Erkenntnis schulde ich nicht meiner persönlichen Kunsterfahrung, sondern der Kenntnis der Kunst- im Besonderen der Musikgeschichte.
Kunst – als Kunstangebot - entsteht immer und überall, ob sie die Analysten an den Universitäten oder im Feuilleton nun im Einzelnen als solche wahrnehmen, wertschätzen oder nicht. Ihr Zustandekommen ist nicht zu verhindern. Sie entsteht wo und wann sie kann, unter allen denkbaren Bedingungen, uneingeschränkt jederzeit. Ich pfeife, summe oder singe launig vor mich hin, trommle mit den Fingern einen Takt, erzähle meinem Gegenüber ein Ereignis als dramatisierte Geschichte, verspüre Sehnsucht beim Blick in die Landschaft, diesen wunderbar empfundenen Moment zu verewigen (Smartphone gezückt und – klick!) ich spiele mit meiner Mimik und meinen Gesten beim Reden wie auf einer Theaterbühne – und auch wenn ich kein Künstler bin, der das Handwerk und Talent besitzt, dies alles kunstvoll zu formen, dem besonderen Augenblick also eine Kunst-Form zu geben und damit zu einer Kunstmöglichkeit zu veredeln: So ist all dies doch ein kleiner Funke, der zum Artefakt führen könnte und auch gelegentlich führt. Mit einer wesentlichen Einschränkung: Es muss Jemanden geben, der unabhängig von der Meinung des Künstlers dem potentiellen Artefakt, das zunächst nur ein Angebot von Kunst ist, seinen Kunstcharakter zuspricht. Erst mit der Benennung als „Kunst“ durch einen Beobachter, Zuhörer, Zuschauer oder Leser wird es zu einer solchen, da sie nun nicht mehr eine bloße Illusion ist und nicht mehr nur von den Wünschen oder Überzeugungen einer einzelnen Person, dem Schöpfer, abhängig. Rezipient kann dabei eine einzelne Person sein oder eine einflussreiche Gruppe, eine peer group. Das ist letztlich gleichgültig und irrelevant für den Kunstbegriff (wenngleich nicht im Hinblick auf die ökonomischen Konsequenzen).
Der Künstler, als solcher berufen, ist mithin ein Erwählter, ein Auserwählter. Der, der erwählt, ist aber nicht ein Gott, eine gefällige Muse oder irgendein anderes metaphysisches Mysterium, sondern sind immer die Anderen, die Gesellschaft, ist ein Publikum, das es zu überzeugen gilt. Und gemeint ist nicht ein "breites" Publikum, sondern die entscheidenden 5%. Das rezipierende Gegenüber allein wählt aus, ob das, was als Kunstmöglichkeit angeboten wird, auch Kunst ist. Erst durch dieses Annehmen und Bestätigen wird das Faktum zum Arte-Faktum, wird der vielleicht sogar als ungeschickt verdächtigte Handwerker (Strichmännchen, Farbkleckse, kakophones Musikstück, performative Provokation) zum Künstler nobilitiert.
Und das Publikum entscheidet sich für die Auszeichnung „Kunst“ dabei nicht, weil das Werk per se und in nuce kunstvoll ist, also aufgrund einer werkimmanenten, objektiv verifizierbaren Kunstqualität (nicht immer ist gelungenes Handwerk Garant), sondern weil sich durch die Wahrnehmung angeregt etwas Symbolhaftes offenbart, was mit seiner individuellen Existenz resoniert. Dieses Erkennen, was auch ein Erfühlen sein kann, muss aber kein rationaler Akt sein, der durch Überlegung zustande kommt, sondern ist meistens ein Moment der Epiphanie; eine Überwältigung, eine unio mystica. Das Publikum spürt, dass das Angebot zur eigenen lebensweltlichen Disposition passt, diese angemessen spiegelt, vielleicht überhöht, ins Utopische oder Dystopische weitet, in aufregender Weise in Frage stellt, oder bestätigt, erregt oder beruhigt, jedenfalls emotional begleitet oder einfach nur kunstvoll beschreibt oder sinnhaft deutet. Deshalb kann es prinzipiell auch, in letzter gedanklicher Konsequenz, keine Differenz der Wertigkeit geben in der Zuweisung zur Kunstsphäre zwischen Groschenroman und Klagenfurter Prosa, zwischen Graffitimalerei an der Straßenecke und Museumskunst oder zwischen Pop-Musik und Beethoven.
Vielleicht liegt unsere unterschiedliche Sicht auf das, was Kunstmusik ist, nicht allein in unserer unterschiedlichen Kunsterfahrung, sondern in unterschiedlichen theoretischen Voraussetzungen, die wir beide zwar grundsätzlich teilen dürften, aber in unterschiedlicher Gewichtung. Sie argumentieren primär als zeitgenössischer erfolgreicher Künstler mit Ihrer reichen Erfahrung und Ihrem Ethos, ich argumentiere in erster Linie als Historiker mit dem für diese Disziplin geschärften relativierenden Instrumentarium.
(N.B.: Dass die Trennung zwischen E und U ein spezifisch deutsches Phänomen ist, das sich im Besonderen unserer nationalen Geschichte verdankt, ist ja unbestritten. Und ich schätze ja gerade an dem, was ich von Ihnen kenne, dieses Crossover oder besser Ihr kreatives Desinteresse an dieser künstlichen - nicht künstlerischen - Dichotomie. Sollte ich Ihnen da etwas fälschlicherweise unterstellt haben, oder dieser Eindruck entstanden sein, wäre dies ein bedauerliches Missverständnis).
Da wir beide am Freitagabend das gleiche Konzert im Künstlerhaus besuchen durften [anlässlich des 70. Geburtstags von Enjott Schneider mit einer Auswahl seiner Werke], erlaube ich mir, anhand dieser Konzerterfahrung in aufrichtiger Weise meine Theorie zu spezifizieren; und ich hoffe sehr, dass ich damit keine freundschaftlichen Gefühle verletze. Ich will mich nicht als kompetenter Konzertkritiker gerieren, sondern versuche ein singuläres Hörerlebnis und einen flüchtigen Kunsteindruck unter den oben genannten Prämissen, was Kunst sei, einzuordnen. (Kurzer Einschub: Es geht mir, wie Sie sicherlich vermuten, im Nachfolgenden um Prinzipielles anhand einer mit Ihnen geteilten Konzerterfahrung; der Respekt und die Anerkennung des kompositorischen Werkes von Enjott Schneider stelle ich selbstverständlich nicht grundsätzlich in Frage, ganz im Gegenteil).
Dass der Komponist, der an diesem Abend gefeiert wurde, sein Handwerk versteht – geschenkt, das steht wohl außer Frage. Die Interpreten: Hervorragend. Ist es - das dargebotene kompositorische Werk - aber dadurch schon Kunst? Natürlich ist es das, weil es in einem Kunstforum stattfindet vor einem Publikum, das gewillt war, dies als Kunst wahrzunehmen. Auch die Einordnung in ein immer noch aktives künstlerisches Lebenswerk, das international Anerkennung findet, erlaubt eigentlich keine ernsthafte Infragestellung. Gleichwohl hat bei all meiner Erfahrung, meiner Kenntnis, meinem Wohlwollen, das Dargebotene mich merkwürdig kalt gelassen. Warum? Die aufgeführten Werke waren bzw. sind weitgehend tonal disponiert, angereichert mit kleinen effektvollen, weniger tonalen Gadgets (aber ohne strukturelle Konsequenzen), narrativ, unkompliziert im hörenden Nachvollzug, und wenn man wollte, war man vermutlich gut unterhalten. Es ist nun auch nicht so, dass nicht das Gefühl aufkam, es sei (als Kunst) nicht „ernst“ gemeint, en contraire. Dafür steht die Person und Integrität des Komponisten ohne jeden Zweifel. Es ist auch keine Frage der handwerklichen Qualität. Das nicht. Es geht nicht um „gut“ gemacht, oder „schlecht“ gemacht. Es geht darum, ob das, was als Kunstmöglichkeit angeboten wird, in mir etwas berührt, in mir etwas auslöst, was ich als Kunst im emphatischen Sinne akzeptieren kann. Und lege ich nicht die Messlatte der Emphase an, dann wird mein Kunstbegriff entweder technisch oder beliebig.
Nun, zugegeben, die Musik berührte mich nicht (Ausnahme: ein Satz aus dem Requiem), so sehr ich mich auch bemühte. Natürlich respektiere ich im professionellen Umfeld die Meinung der Peer Group und finde dann auch Argumente für diese Meinung; ich beschränke mich in diesem Falle und ähnlichen Fällen dann eben darauf, dies als individuelle, subjektive Einzelerfahrung ohne jeglichen Anspruch auf Allgemeingültigkeit zu akzeptieren. Das habe ich so gelernt. Und immerhin habe ich das Buch [über E. Schneider] als Kuratoriumsmitglied in der Reihe Komponisten in Bayern mit verantwortet und dies mit musikwissenschaftlicher Überzeugung. Aber es bleibt ein Unbehagen grundsätzlicher Natur, insbesondere in der Grundfrage: Bin ich bei solchen Konzerterlebnissen derjenige, der nicht verstehen will und kann, was allen anderen selbstverständlich ist, oder bin ich derjenige, der erkennt, was alle anderen sich nicht einzugestehen bereit sind? Und lasse ich schlichtweg alles gelten, was mit einem selbstgewählten oder von einer Gruppe zugesprochenen Kunstanspruch auftritt, wo sind dann die Grenzen? Kann es objektive Kriterien dafür geben, was die Gesellschaft - und damit auch ich - als Kunst anerkennen muss? Und wenn ja, wie lehrt man dies? Gibt es diese Kriterien aber nicht, jenseits des bloß Technischen, gilt: Anything goes.
Sollte Sie eine gelegentliche Antwort erwägen, würde ich mich freuen und verbleibe wie stets mit herzlichem Gruß,
Ihr
Reiner Nägele
* * *
Lieber Reiner Nägele,
Ich widerspreche Ihnen überhaupt nicht - ich bin der Letzte, der eine reine "L'art pour l'art"- Ästhetik verfolgen würde, oder der sich in irgendeiner Form als etwas "Besseres" sieht, nur, weil ich Opern oder Orchesterstücke schreibe, und keine Filmmusik oder Schlager. Mich interessieren diese Kategorien überhaupt nicht, glaube auch nicht, dass etwas zur Kunst wird, nur, weil ich das behaupte.
Sie haben sehr richtig und klug beschrieben, wie wichtig die Wahrnehmung der Gesellschaft hierbei ist und wie Kunst erst durch die Betrachtung zur "Kunst" wird, da stimme ich absolut zu.
Nun ist aber jede Zeit von ihren speziellen Themen geprägt, und im Moment wird zum Beispiel die Kunstmusik ständig in eine Rechtfertigungsrolle gedrängt, sie würde ja nicht die Massen begeistern, und wäre daher nicht "würdig" genug, sollte also auch auf keinen Fall z.B. staatlich gefördert werden.
Dass diese Argumentation sehr von einem kapitalistischen Denken geprägt ist, liegt natürlich in der Hand. Verkauft es sich, hat es einen "Wert", wenn nicht, dann nicht. Diese Kategorisierung ist aber historisch ein relativ neues Phänomen - tatsächlich hat Musik über die Jahrhunderte immer wieder andere Funktionen erfüllt, die alle in "Kunst" resultierten. Zuerst war sie vermutlich Ritus (Frühzeit), dann diente sie der Geschichtsbewahrung oder Information (mittelalterliche Barden), dem Theater, dem Mythos, dann der Religion, dann der Philosophie, der Repräsentation an Fürstenhöfen, als Privatunterhaltung, dem Bürgertum und sogar der Politik und dem Kalten Krieg (die Darmstädter Schule wurde nachweislich vom CIA mitgefördert, weil man sich einem Kulturkampf mit dem Osten befand). Die Musik schlüpft also in tausend Rollen - auch die Rolle, die momentan dem Kapitalismus und dem Kommerz dient, wird nur eine Rolle sein - ich kann mir durchaus eine Welt vorstellen, in der kommerzielle Erfolg und die kommerzielle Auswertung von Musik keinerlei Rolle mehr spielt, im Grunde steuern wir mit dem schleichenden Einbruch des Musikgeschäfts im Zeitalter des Downloads und des Internets zunehmend darauf zu.
Was wir aber oft unterschätzen, ist, wie überraschend fern vom Massengeschmack der "kulturelle Durchsatz" (so nenne ich selber das Phänomen, das sich bestimmte neue kulturelle Ideen langsam so durch die Gesellschaft verbreiten, dass sie Teil einer gemeinsam empfundenen "Kulturgeschichte" werden) wunderbar funktioniert.
Wir können uns sicherlich darauf einigen, dass viele der heutigen Ideale der Europäischen Union und der Demokratie auf Ideen zurückgehen, die von einer Handvoll Philosophen ausging, die unter komplettem Ausschluss einer größeren Öffentlichkeit in griechischen Hainen der Antike in kleinen elitären Gruppen miteinander diskutierten und Ideen austauschten. Ich finde es faszinierend, wie sich diese Ideen - stets von Rückschlägen und auch dem Vergessen bedroht - von einer winzigen Anzahl von Menschen in eine gemeinsame europäische Geschichte übergegangen sind, sodass sie uns heute noch modern und relevant vorkommen.
Ebenso ist es mit der Musik: Der berühmte "Mann auf der Straße" wird die Namen Perotin, Du Fay oder Ockeghem nicht im Geringsten kennen, aber wir beide wissen, dass deren Beitrag zur europäischen Musikgeschichte mindestens genauso groß ist wie der von Beethoven oder Mozart, vielleicht sogar größer, weil es sich um Pioniere in jeder Beziehung handelte.
Dass man die Namen außer in Expertenkreisen heute nicht mehr kennt, macht überhaupt nichts, weil ihre Ideen über die Organisation von Harmonie und Melodie und Rhythmus selbst in einem einfachen Popsong in irgendeiner Form weiterbestehen.
Es wird auch - ganz sicher sogar - der Tag kommen, an dem man Namen wie Beethoven oder Mozart nicht mehr kennen wird, und andere Namen werden an ihre Stelle getreten sein. Ich finde das überhaupt nicht schlimm, ihre Ideen leben durch ihre vielen Schüler weiter, und mit jedem einzelnen Komponisten, jeder einzelnen Komponistin die dann komponiert.
Wir unterschätzen auch ständig, wie sich Ideen durchsetzen.
Bestes Beispiel ist die von vielen so geschmähte Wiener Schule. Als wie wahnsinnig wichtig erwies sich doch der "Verein für musikalische Privataufführungen" - da mühten sich Piatigorsky und seine Kollegen monatelang mit dem Pierrot ab, spielten es vor einer vermutlich sehr kleinen Schar, man könnte denken "diese eitlen Künstler, überschätzen sich in ihrer Wirkung total".
Aber dann begannen die Leute über diese Musik zu reden, viele regten sich auf, manche wenigen verehrten sie. Viele von den Verehrern wurden dann Schüler von zum Beispiel Schönberg oder anderen, die ähnlich dachten. Durch die Vertreibung während der Nazizeit verteilten sich diese ganzen Künstler - auch Schönberg - über die ganze Welt, was auch ihre Ideen verteilte. Einige von den Schönberg-Schülern hatten dann wieder weitere Schüler und prägten die jeweiligen akademischen Szenen, in denen dann wiederum zum Beispiel spätere Filmkomponisten wie Bernard Herrmann (der im europäisch geprägten Juillard studierte) beeinflussten, die sich für diese andersartigen musikalischen Ideen begeisterte und schon als Student viel zeitgenössische Komponisten aufführte. Aus dieser Erfahrung heraus komponierte dieser dann Filmmusiken wie Psycho, die in der Popularkultur einen enormen Eindruck hinterließen in dutzenden von Musikgenres, der bis heute anhält (es gebe noch viele, viele weitere Beispiele), sodass die meisten Menschen auf diesem Planeten tatsächlich Musik kennen, die direkt auf den winzigen Verein für musikalische Privataufführungen zurückgeht, ein faszinierender "Butterfly-Effect" wie ich finde.
Ohne Schönberg hätte es ganz sicher keine Musik wie Psycho gegeben, vielleicht würde man noch nicht einmal den Namen Hitchcock mehr kennen, denn der Erfolg seiner Ästhetik war sehr von der großartigen Musik geprägt (besonders in Vertigo).
Weder Sie und ich wissen, welche Effekte dieser Art es in der Zukunft geben wird, und welche KomponistInnen die prägenden Figuren sein werden. Ich bin nicht eitel genug, mich dafür für berufen zu halten, weiß aber, dass ich alles dafür tue, mit großer Leidenschaft und Hingabe einen wie auch immer großen Beitrag dazu zu leisten. Und dabei geht es mir tatsächlich vor allem um die Ideen selber, nicht um den Erfolg damit, nicht um die akademische Anerkennung, nicht um den kommerziellen Verdienst. Daher glaube ich auch an die Kraft der Oper und des musikalischen Theaters, daher schreibe ich gerne Opern, aber auch anderes, daher glaube ich an eine Zukunft der Musik, die viel wilder und überraschender sein wird, als wir beide es uns je vorstellen können. Ich arbeite an Ideen für eine ungewisse Zukunft, bin Chronist der Gefühle meiner Zeit, das meinte ich damit. Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug neugierig auf das Leben sein, und über nichts Anderes möchte ich meine Musik schreiben. Das Lebendige und das sich Entwickelnde und neu Entstehende ist ihr Thema. Hierin bin ich als sogenannter "E-Komponist" tausend Mal freier als jeder Jingle-oder Gebrauchskomponist, und das ist auch das, was ich meinen StudentInnen predige: im Grunde suchen sich Künstler immer eine Situation, in der sie möglichst frei sind. In den 60er Jahren erarbeiteten sich viele großartige Künstler in der Popmusik diese Freiheit mit kommerziellem Erfolg, das ist heute viel schwieriger. Wenn ich heute eine Oper oder ein Orchesterstück schreibe, bin ich sehr, sehr frei und stehe unter nur wenigen Zwängen. Diese Freiheit nutze und genieße ich, denn letztlich möchte ich auch, dass meine Musik Freiheit ausstrahlt, weil ich das als einen positiven Beitrag zu dieser Welt verstehe. Kreativität muss wild und frei sein, das ist das Wichtigste, alles andere ist Staatskunst oder reine Massenware.
Was nun Ihren Eindruck von der Musik von Enjott Schneider angeht, so hat es ganz sicher damit zu tun, dass es sich - bei aller Wertschätzung für den Kollegen als wunderbarem Kollegen und Menschen - einfach auch nicht um hochoriginelle Musik handelt. Aber ich könnte mich auch täuschen, und seine Musik erreicht den eben gerade beschriebenen "kulturellen Durchsatz" auf ganz überraschende Weise, die ich einfach nicht ahnen konnte. Das wäre dann auch nicht schlimm, sondern einfach der Lauf der Dinge und sei ihm von Herzen gegönnt :-)
Viele Grüße,
Moritz Eggert
* * *
Lieber Moritz Eggert,
„Nun ist aber jede Zeit von ihren speziellen Themen geprägt, und im Moment wird zum Beispiel die Kunstmusik ständig in eine Rechtfertigungsrolle gedrängt, sie würde ja nicht die Massen begeistern, und wäre daher nicht "würdig" genug, sollte also auch auf keinen Fall z.B. staatlich gefördert werden.“
Ich glaube, dass dieses Rechtfertigungsproblem der Kunstmusik tiefer wurzelt, historisch gesehen, und seine Ursachen gerade nicht primär einer heutzutage weltweit dominierenden Wirtschaftsordnung geschuldet ist, obgleich die existenzsichernde Finanzierungsbasis für den im 18. Jahrhundert ins Licht der Öffentlichkeit tretende „freien“ Künstler, der nicht in Stellung von Hof, Stadt oder Kirche bezahlt wurde, ein maßgeblich zu berücksichtigender Faktor bei der Kunstproduktion war. Auch scheint mir die Rechtfertigungsproblematik nicht einer Kunst geschuldet, die sich – um sich berechtigt Kunst nennen zu können - dieser Form der kommerziellen Wertschöpfung prinzipiell verweigert (sorry, verehrter Adorno). Es ist vor allem kein „relativ neues Phänomen“, wenngleich ein neuzeitliches, im 18. Jahrhundert sich ausprägendes. Dass hat wesentlich mit einer grundsätzlichen Verschiebung der Verhältnisse von repräsentativer und bürgerlicher Öffentlichkeit zu tun, wie sie Jürgen Habermas für das 18. Jahrhundert beschreibt. Für die Musikgeschichte ist dies ganz besonders relevant, da hier erstmals die sogenannte zahlende Öffentlichkeit als Kunstrichter und Finanzierungsquelle für musikalische Darbietung in besonderer Weise mitbestimmend wurde (Telemanns „Collegium musicum“ in Hamburg, Händels Opernakademien, Mozarts Klavierkonzerte, der Wechsel in der Hofoper von eingeladenen Zuschauern zu zahlenden Zuschauern, der Beginn der Abonnementkonzerte, die Gründung und wachsende Bedeutung der Museumsgesellschaften etc.pp.). Dass dies auch den Musik“geschmack“ veränderte und die Musik populistischer machte – schließlich galt es ja, damit Geld zu verdienen – ist ebenfalls Realität. Der Wechsel von der zopfigen Gotik zur empfindsamen und schließlich (Wiener) klassischen Musik mit ihrer 3-stufigen Harmonik als Basis, ihrer Zweitaktperiodik, ihren Effekten (Mannheimer Schule, musikantische - böhmische bzw. volksmusikalische – Einflüsse werden struktur- und satzbestimmend!) etc., für die das für Mozart wichtige Lehrbuch Joseph Riepels paradigmatisch steht – all dies belegt: Die Musik passte sich an und blieb dennoch Kunstmusik und prägend für die Nachwelt, für einige Zeit zumindest. Mit Beethoven – so nehme ich das wahr – beginnt der erste Riss in dieser Allianz zwischen Gesellschaft und Künstler, der schließlich zur dichotomischen Spaltung in E- und U führte (wurden seine Sinfonien aufgeführt, verließen die Zuhörer nachweislich den Saal). Genug der musikgeschichtlichen Betrachtung, die Ihnen sicherlich nicht neu ist. Wichtig war und ist mir aber, klar zu stellen, dass der Rechtfertigungskonflikt der „modernen“ Kunstmusik tatsächlich kein ganz neues Phänomen ist, und dass es die Komponisten im 18. Jahrhundert noch verstanden haben, ihre Musik, die wir heute als „klassisch“ (und das meint: vorbildlich) empfinden, auch massentauglich zu machen, ohne den Kunstanspruch aufzugeben. Ganz im Gegenteil. Diese Entwicklung belegt auch die Geschichte der Musikverlage, insbesondere die von Schott. Auch die kommerziell erfolgreichen Komponisten des 19. Jahrhunderts, die aber konsequent musikgeschichtlich in die zweite oder dritte Reihe geschrieben werden (Spohr, Danzi, Kreutzer, Hummel…) bedienten noch fleißig diese vor-Beethovenschen Muster. Und so ist es geblieben, bis in die heutige Zeit. Wen wunderts, dass die sich und ihr Werk selbst erläuternden Schriften der „fortschrittlichen“ Komponisten und die kritische Analyse im 19. Jahrhundert bis ins 20. Jahrhundert hinein boomten. Die sogenannte Kunstmusik erklärte sich der „Masse“ nun Mal nicht mehr aus sich selbst heraus, aus ihrer Wirkung.
Was also genau gilt es zu beklagen?
Sie sprechen davon, dass die „Musik über die Jahrhunderte immer wieder andere Funktionen erfüllt, die alle in "Kunst" resultierten“. Das ist richtig. Aber die Kunst, die unter diesen funktionalen Bedingungen entstand – Kirche, Hof in früherer Zeit, Staat (Eisler, Schostakowitsch einerseits, die imperialistische Hollywoodmusik andererseits) – war immer subventioniert und Existenz sichernd, sofern sie die an sie gestellten funktionalen Bedingungen erfüllte. Frei war sie nie oder nur in dem Maße, wie es der einzelne Künstler verstand, innerhalb der engen utilitaristischen Grenzen seine Kunst zu individualisieren. Wer sich dem verweigerte und verweigert, kann dann von seiner „Kunst“ schlicht nicht mehr leben. Das ist die tatsächlich gewährte Freiheit. Das war aber schon zu Lassos Zeiten so, prägte auch die Darmstädter Szene und ist auch bei den Preisvergaben moderner Kompositionswettbewerbe nicht anders.
„Ich“, schreiben Sie hoffend und mit bewundernswertem Optimismus, „kann mir durchaus eine Welt vorstellen, in der kommerzielle Erfolg und die kommerzielle Auswertung von Musik keinerlei Rolle mehr spielt, im Grunde steuern wir mit dem schleichenden Einbruch des Musikgeschäfts im Zeitalter des Downloads und des Internets zunehmend darauf zu.“
Die Fahrt geht in diese Richtung, fraglos. Doch wollen wir - Sie, die Künstler - das wirklich? Ohne Rückkoppelung resp. Rücksicht an und auf die Interessen der Gesellschaft? (Und damit meine ich nicht die dumpfen, trägen, bornierten, an Kultur und Kunst Desinteressierten; schon eher die Abonnenten, die Opern- und Konzertgänger, die streamenden und Radio hörenden Musikliebhaber).
Ich begeistere mich wie Sie für die Genese unserer Musik und die Idee einer nahezu ununterbrochenen Genealogie, ja einer Art apostolischer Sukzession von Du Fay bis …. (beliebig aus dem Pool heutiger Komponisten und „Produzenten“ schöpfend einsetzbar). Das ist aber reine Ideologie, die ins Utopische gewendet in der Lehre sicherlich inspirierend sein kann und unbestritten zur Selbstvergewisserung künstlerischer Identität tauglich sein mag. Ein schöner Glaube, der Vertrauen in die eigene prekäre Existenz schenkt. Mit der musikschöpfenden Realität, in der sich Komponisten, Interpreten, Veranstalter und Verwerter aller Art den Kuchen zu teilen versuchen, spielt diese Imagination keine substantielle Rolle. Ohne kommerzielle Auswertung gibt es keine Vergütung. Also hat man – will man nicht bloß dilettieren - entweder eine Sinekure als Kompositionsprofessor oder Musik- und Instrumentallehrer, die es einem erlaubt, neben dem Brotberuf auch noch künstlerisch zu agieren, oder wir müssen wieder zurück zu einer aristokratischen oder theokratischen Gesellschaftsform, unter der wir als Künstler in Anstellung ausreichend subventioniert unsere Kunst leben können. Freilich auch nur, soweit es genehm ist. Ich sehe keine wirkliche Lösung.
„Ohne Schönberg hätte es ganz sicher keine Musik wie Psycho gegeben, vielleicht würde man noch nicht einmal den Namen Hitchcock mehr kennen, denn der Erfolg seiner Ästhetik war sehr von der großartigen Musik geprägt“. Wirklich? Ohne Schönberg keine Hitchcock-Musik? Es gab auch Hauer, Toch u.a. Es gab die Franzosen, es gab die cue sheets, die auch musikalische „Geräusche“ als Stimmungserzeuger wie Cluster und pianistische Effekte nicht ausschlossen. Musikgeschichte ist niemals eindimensional. Und eine Lehrer-Schüler-Sukzession eine schöne Geschichte, aber allermeist auch nicht mehr. Und dass heute die Psycho-Musik (zumindest die paar Takte Duschszene) ikonischen Charakter hat und auch im kulturellen Gedächtnis der eher Kulturfernen verankert ist, könnte die Stärke von Herrmanns Musik belegen. Filmmusik eben, funktionale Musik, narrative Musik. Dass dagegen Schönbergs kompositorisch unbestritten einflussreiches Schaffen nur noch wenigen Kennern und Liebhabern heute tatsächlich bekannt sein dürfte, scheint mir kein Trost angesichts der bloß nur noch musik„geschichtlichen“ Bedeutung des Letzteren. Da war und ist doch die reine Theorie geschichtsmächtiger, als die tatsächliche künstlerische Leistung.
„Ich arbeite an Ideen für eine ungewisse Zukunft, bin Chronist der Gefühle meiner Zeit, das meinte ich damit. Ich werde bis zu meinem letzten Atemzug neugierig auf das Leben sein, und über nichts Anderes möchte ich meine Musik schreiben. Das Lebendige und das sich Entwickelnde und neu Entstehende ist ihr Thema. Hierin bin ich als sogenannter "E-Komponist" tausend Mal freier als jeder Jingle-oder Gebrauchskomponist, und das ist auch das, was ich meinen StudentInnen predige: im Grunde suchen sich Künstler immer eine Situation, in der sie möglichst frei sind“.
Ich finde dies ein wunderbares Ethos! Dies allein schon würde mich als Ihr Schüler stolz machen und vor allem: mutig. Mit dem, was ich Ihnen schreibe, den oft widersprechenden Gedanken von Diskussionslust getrieben, will ich Niemanden „entmutigen“, im Gegenteil. Ich finde, dass das Nachdenken darüber, wie Kunst entsteht, was Kunst ausmacht, wie und warum Kunstgeschichte so und nicht anders erzählt wird, aufklärend ist, und für das künstlerische Selbstverständnis hilfreich sein kann. Sein kann, nicht muss. Unabhängig davon, und da stimme ich Ihnen 100%-ig zu: Das Komponieren, das Musizieren folgt stets eigenem Antrieb, Willen und Wollen und muss sich, was das rein Künstlerische anbelangt, Gott sei Dank einen Teufel scheren um die geschichtlichen Bedingungen.
In diesem Sinne grüße ich herzlichst,
Ihr
Reiner Nägele
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Lieber Reiner Nägele,
Vielen Dank für die interessante Antwort!
Ganz kurz, versprochen: Ich glaube, dass ich mich vielleicht missverständlich ausgedrückt habe in zwei Punkten:
- Selbstverständlich geht Psycho nicht nur auf Schönberg zurück, ich habe das nur als Beispiel genommen um zu zeigen, wie Dinge, die sich überhaupt nicht im kommerziellen Bereich als Ideen entwickeln sehr wohl großen Niederschlag in der Populärkultur finden und damit "massentauglich" werden (wenn man das als wichtiges Kriterium ansieht - auch komplexe wissenschaftliche Theorien sind nicht "massentauglich", ihr Verständnis schlägt sich aber in der Wissenschaft nieder und damit auch in Alltagsgegenständen wie Handys und Autos). Ich hätte dieses Beispiel unendlich erweitern können, aber es sollte ja nur ein Beispiel sein. Selbstverständlich ist alles unendlich miteinander verflochten, aber von Kunstmusik und experimenteller Musik gehen eben sehr wohl entscheidende Impulse aus, auch heute (relativ junges populäres Beispiel ist Minimal Music)
- Ich habe nirgendwo geschrieben, dass die Kunst "absolut" frei sein kann. Mir ging es um "Freiheitsgrade". Wie komplex der "Freiheitsbegriff" ist, kann man in der Philosophie endlos diskutieren. Ich sehe es eher so: die eine Wiese ist nicht so saftig, die andere etwas saftiger. Beide Wiesen sind nicht "die absolut saftigste Wiese" (=perfekte, allumfassende Freiheit), aber ich kann mich dem Ideal der saftigen Wiese eher nähern, wenn ich mich auf die saftigere Wiese begebe, anstatt auf der wenig saftigen Wiese zu verharren. Um diese Freiheitsgrade geht es mir. Ich nehme immer die saftigere Wiese, und meide Verkümmerung durch Vorgaben und Verbote.
Dass es heute für zeitgenössische Komponisten unmöglich ist, ohne akademische Tätigkeit zu überleben, stimmt nicht - da fielen mir zahllose Gegenbeispiele ein. Ich selber unterrichte mit meiner halben Professur ohne finanzielle Not als Hobby, weil mir der Kontakt mit der jungen Generation und der Austausch mit ihr sehr wichtig ist, um mein eigenes Denken immer wieder zu hinterfragen. Ich mache sogar Verlust mit meiner Professur, weil ich wegen ihr in eine höhere Steuerklasse komme. Beamter bin ich auch nicht, ich kann von meinen Konzerten und Aufträgen allein meine Familie ernähren, und genieße dadurch ein großes Maß an Freiheit. Dafür bin ich sehr dankbar, sehe es als Privileg wie auch als Verantwortung. Aber ich bin nicht der einzige, dem es so geht. Dass viele Komponisten, die es nicht müssten, dennoch unterrichten bzw. unterrichtet haben, hat sicherlich ähnliche Gründe wie bei mir, hierzu zähle ich Kollegen wie Wolfgang Rihm oder Helmut Lachenmann, die es auch ganz gewiss nicht nötig hätten, eine Professur zu haben, um über die Runden zu kommen...
Viele Grüße,
Moritz Eggert
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Lieber Moritz Eggert,
auch Ihnen Dank für Ihre präzisierende und auch sehr persönliche Antwort. Nun fällt es mir zunehmend schwerer, Ihnen substantiell Paroli zu bieten, da ich im Grundsätzlichen keineswegs mit dem von Ihnen Geäußerten hadere, sondern prinzipiell geneigt bin, Ihnen in vielerlei Aspekten unwidersprochen zuzustimmen. Denn irgendwie stehen wir dann doch nicht auf unterschiedlichen Seiten, nur vielleicht hinsichtlich der Gewichtung im Lebensplan. Musikwissenschaftler wird man nicht, ich jedenfalls wurde dies nicht, indem man sich durch eine Leidenschaft für die Wissenschaft auszeichnete, sondern weil die Musik von Kindheitstagen an Lebensinhalt und Erfüllung war, und letztlich die sich bietenden Gelegenheiten und auch – vielleicht - das Talent nicht genügen konnten, sowohl eine pianistisch-solistische und ohne Protektion eine wissenschaftliche Karriere ernsthaft in Erwägung zu ziehen. Über die "Freiheitsgrade" ließe sich gewiss noch trefflich streiten, aber, es muss nicht sein. Eine bislang äußerst anregende Diskussion nur der Diskussion wegen zu verlängern, würde unser beider Zeitkontingent für solch unterhaltsames Nebenbei sicherlich allzu sehr strapazieren. Oder? Wiewohl ich, zugegeben, unseren kleinen Disput über die wenigen Wochen sehr genossen habe und beim gelegentlichen Wiederlesen immer wieder neu goutiere; gerade auch, weil sich doch in die eine oder andere Richtung abermals neue, spannende Fragen auftun. Vielleicht, lieber M.E., bei Gelegenheit wieder?
Immer dazu bereit! Für heute aber: Fine. Schließlich wartet ein schönes Wochenende darauf, ausgiebig und genussvoll verbracht zu werden.
In diesem frohgemuten Sinne grüßt Sie herzlich, Ihr
Reiner Nägele
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Lieber Reiner Nägele,
So sehe ich es auch, vielen Dank und Ihnen ebenfalls ein schönes Wochenende!
Herzlich, Ihr
Moritz Eggert